Rote Schnur Titelschrift









Neandertal

Befruchtet vom Neandertaler?

Die Wirkung der anderen Art auf das Aurignacien

Die Wirkung der Neandertaler auf die Erschaffung der menschlichen Kultur könnte weitaus heftiger und fundamentaler gewesen sein, als bisher angenommen wird. Jenseits des DNA-Flusses und jenseits des pragmatischen Voneinanderlernens zwischen Sapiens und Neandertalensis könnte die Begegnung der beiden Menschenarten die Entstehung von Kunst und Musik ausgelöst haben. In der Abstammungsfrage wird angenommen, dass etwa ein bis vier Prozent des Genoms der modernen Europäer neandertalisch seien. Bei der Kultur der Steinzeit bewegen sich die Diskussionen nur auf der Ebene des gegenseitigen Kopierens. Wer hat welche Techniken bei der anderen Menschenart abgeguckt? Soweit ich sehe gibt es noch keine Überlegungen auf der viele fundamentaleren Ebene, welche kulturellen Entwicklungsprozesse durch das Kennenlernen einer anderen Menschenart in der Psyche und im Selbstverständnis ausgelöst wurden. Von den Anderen eine neue Jagdtechnik oder eine neue Art der Knochenbearbeitung abzugucken ist eine nur pragmatische und damit ziemlich oberflächliche Art des Kennenlernens. Spätestens als Homo sapiens sapiens und Homo sapiens neandertalensis miteinander intim wurden, müssten da ganz andere, aufwühlende Prozesse in den Seelen und Gehirnen aller Beteiligten abgelaufen sein.
Was hat die Begegnung mit einer anderen Menschenart psychisch und kulturell ausgelöst? Diese Frage und ihre Beantwortung ist die Idee die hier verfolgt wird.

Das Aurignacien ist die steinzeitliche Epoche in der die Kunst erfunden wurde. Es ist auch die Epoche, in der der moderne Mensch nach Europa einwanderte. Und es ist die Epoche in der Neandertaler und Sapiens ein paar tausend Jahre nebeneinander in Europa lebten.

Die beiden großen Fragen zum Aurignacien sind:
Was führte zur explosionsartigen Vermehrung von Kunst in diesem Zeitalter? Und: Wie war die Rollenverteilung von Homo sapiens und Homo neanderthaliensis?
Vielleicht beantwortet die zweite Frage die erste.

Könnte die Begegnung mit der anderen Menschenart der Auslöser gewesen sein für die Erfindung der Kunst? Hat der Anblick des Neandertalers beim Sapiens den fragenden Blick geschaffen: Die sind wie wir und doch irgendwie anders. Wer sind die und wer sind wir und was sind die anderen Tiere? Was haben wir gemeinsam und was unterscheidet uns? Nicht nur der Anblick der Anderen überfordert die Synapsen, auch deren Laute, ihre andere Sprache, ihre Melodie ist aufregend fremd und aufregend ähnlich. Die eingespurten Hör-Gewohnheiten geraten ins Wanken und verlangen nach neuen Verknüpfungen. Wer nur eine Sprache kennt, darf meinen, die Dinge hießen von Natur aus so, wie sie in der einen Sprache genannt werden. Mit einer zweiten Sprache kommt die erste zum Bewusstsein. Von einer Sprache in die andere zu übersetzen, lehrt erst Bedeutung als solche und als Problem zu erkennen. Bedeutung ist das, was "unsere" Sprache mit der der Neandertaler gemeinsam hat. Im Unterschied zu den Lauten von Tieren, die nur deren Art und Stimmung verraten, kann Sprache vielmehr: Sie kann eine momentan nicht-vorhandene Szenerie hervorrufen. Beide Menschenarten können Geschichten erzählen. Die Hirschkuh kann ihre Kinder nur vor der Gefährlichkeit des Löwen warnen, wenn er da ist. Nur wenn der Löwe als Geruch, als Gebrüll oder sonst irgendwie real in der Nähe ist, haben die Gefahrbekundungen der Hirschkuh einen Sinn. Menschen dagegen können vom Löwen erzählen, auch wenn er nicht da ist. Wir können eine virtuelle Welt entstehen lassen. Richtig nachdenken über dieses Wunder kannst du aber erst, wenn es eine zweite Sprache gibt, die du nicht gleich verstehst. Und hinter der Sprache geht es weiter. Was sind Laute jenseits von Brunftruf oder Zorngebrüll und jenseits von Bedeutung tragender Sprache? Haben Laute eine eigene Qualität außerhalb ihres "Informationsgehaltes"? Hörst du den Wind singen. Erfinden wir ganz neue Geräusche, die kein Tier je gehört? Puste in einen hohlen Knochen und nenne es Musik. Wir lauschen und die Neandertaler lauschen. Was ist deren "Musik", was ist unsere? Und dann erst ihre Berührung! Wie fühlt sich Neandertaler-Haar an und wie ihre Haut? Wo liegen ihre Stärken und wo ihre Empfindlichkeiten?

Ist das nur eine Phantasie oder war das heftig einsetzende künstlerische Schaffen einer oder sogar beider Menschenarten eine Folge des gegenseitigen Kennenlernens?

Könnte die Begegnung mit der anderen Art bei den Sapiens eine Welle von Selbsterkenntnis erregt haben, die einfach kreativ verarbeitet werden musste? Spätestens wenn aus der Begegnung Mischlinge hervorgebracht werden, ist es vorbei mit der althergebrachten Selbstverständlichkeit und mit dem bloßen Dasein als Gewohnheitstier. Du weisst nicht mehr wer du bist. Wenn Fremdartigkeit und Ähnlichsein so heftig beieinanderliegen, dann muss das aufkommende Synapsengewitter durch die Schaffung neuer Welten entlastet werden. Die Fassungslosigkeit muss durch Neufassung der Selbstverständlichkeiten kanalisiert werden. Gegen die Verunsicherung hilft nur die Erforschung der Möglichkeiten: Figurinen schnitzen, Höhlenwände bemalen und in den hohlen Knochen blasen bis Musik rauskommt.

Die Erfindung aller Künste findet nicht zufälligerweise gerade in dem Zeitalter statt, in dem die Sapiens mit den Neandertalern dieselben Gegenden und sogar dieselben Abris und Höhlen bewohnen. Taten sie das nur abwechselnd, vielleicht streitend, einander erschlagend, oder manchmal auch zärtlich und irgendwann dann befruchtend und Neues hervorbringend, was die Welt zuvor noch nie gesehen, nie gehört hatte?

Wenn aber die Neandertaler bei "uns" den künstlerischen Schaffenswahn auslösten, warum dann nicht auch umgekehrt? Das Aurignacien ist das Zeitalter der gegenseitigen geistigen Befruchtung.

Soweit die zweieinhalb Thesen zur Beantwortung der Aurignacien-Fragen.

Die überraschende Nähe des Neanderthals

Für alle, denen die Fragen zum Aurinagcien nicht ganz klar waren, das Ganze nochmal langsam zum mitdenken:

Die Verwandtschaft aus dem Neanderthal rückt uns immer mehr auf die Pelle. Bis vor ein paar Jahrzehnten galten wir noch gar nicht als verwandt. Als Joao Zilhao und Erik Trinkaus manche paläolithische Knochenfunde zu Mischlingen aus Neandertaler und Homo sapiens erklärten, da war das noch eine exotische Außenseitermeinung. Inzwischen sind die DNA-Analysen von Svante Pääbo vom Leipziger Max-Planck-Institut weitgehend anerkannt, wonach wir Europäer etwa 1 bis 4% unserer Gene vom Neandertaler geerbt haben. Die hatten was miteinander, die beiden Stämme unserer Vorfahren, wenn auch nicht sicher ist in welchem Jahrtausend und auf welchem Kontinent, aber sie hatten! Der kollektive Vaterschaftstest ist positiv. Oder war es ein Mutterschaftstest? Mitochondrien oder Y-Chromosom weiss ich nicht mehr. Ginge es nur um Paläogenetik, dann dürfte der gesunde Sapiens-Verstand sich vielleicht noch hinter der Skepsis verstecken, dass in dieser Disziplin vieles in Bewegung und weniges sicher sei. Und mit ein paar Prozent Neanderthal-Genen können wir leben. Viel bedrängender ist die Diskussion in der Archäologie über die kulturelle Grenze zwischen den beiden Menschenarten. Man ist sich nicht einmal mehr sicher ob die wunderbaren Kunstwerke der Höhlenmalerei und der paläolithischen Kleinkunst von "uns" Sapiens stammen oder vielleicht doch schon von den Neandertalern geschaffen worden waren. Vor etwa 40-tausend Jahren kam Familie Sapiens nach Europa und seit dieser Zeit begannen hier die schönen Künste zu blühen. So etwa ist die traditionelle Meinung der Wissenschaft. Die schon längst einheimischen Neandertaler hatten zwar auch Steinwerkzeuge in der anspruchsvollen Levallois-Technik geschlagen, sie benutzten das Feuer und sie bestatteten vielleicht sogar manche ihrer Toten, aber das war's auch schon mit ihrer Kultur. Das war fast nichts im Vergleich zu der aufblühenden Kultur des Homo sapiens.

Als Grenze zwischen den beiden Menschenarten wurden bei den Ausgrabungen zwei an ihren Werkzeugen erkennbare Kulturen herausgearbeitet: Das Chatelperronien als neandertalisch und das Aurignacien als sapiens-zugehörig. Alles was Symbolbildung, Ästhetik und vielleicht sogar einen Hauch von Religion enthalten konnte, also über den Zweck des puren Überlebens hinaus ging, wurde dem Sapiens zugeordnet.

Die wichtige Kultur-Epoche des Aurignacien geriet in den letzten Jahrzehnten der Forschung in die Zone der Grenzkonflikte. Zum Aurignacien gehören zum Beispiel die ältesten Höhlenmalereien in der Chauvet-Höhle (Département Ardèche) und die in Mammut-Elfenbein geschnitzten Tierfigürchen aus der Vogelherdhöhle auf der schwäbischen Alb und insbesondere die Löwenmensch-Figurine aus der Stadel-Höhle im Hohlenstein. Vielleicht sogar noch wichtiger ist die älteste bildhauerische Darstellung eines menschlichen Körpers überhaupt, nämlich die Venus vom Hohlefels. Nicht nur die bildenden Künste sind betroffen. Praktisch die komplette Musik des Paläolithikums könnte neandertalisch gewesen sein: Die aus Vogelknochen hergestellten Flöten der Schwäbischen Alb, aus der Vogelherdhöhle und aus dem Geissenklösterle schienen mit einem Alter von 35 bis 43 Tausend Jahren gerade noch in einer Zeit zu liegen, in der wohl schon Sapiens in Europa angekommen waren, aber in der Divje-babe-Höhle in Slowenien wurde ein noch älteres Musikinstrument gefunden: Eine Flöte, die auf ein Alter von 45.000 bis 60.000 Jahre geschätzt wird, also doch wohl von Neandertalern geschnitzt und gespielt worden war. Damit geraten auch die schwäbischen Flöten verstärkt unter Neandertaler-Verdacht.

Wenn all diese Kultur-Produkte des Aurignacien vom Neandertaler produziert worden sein könnten, dann stünde unser Sapiens-Stamm als ziemlich kulturlose Bande von Plagiatoren dort in der Eiszeit und sogar das Zusammennähen von Fellen, mitsamt den zugehörigen Erfindungen von Nadel und Faden wäre nicht "unser" geistiges Eigentum, sondern nur abgekupferte Fähigkeiten, paläolithische Industriespionage. Wir müssten dann froh sein um die knapp 4% unseres genetischen Kulturmenschenanteils und die übrigen 96% unseres Genoms wären die DNA der zugewanderten Diebe- und Gauner-Gattung, die sich selbst hochstaplerisch als "Sapiens-sapiens" bezeichnet. Das ist jetzt ein bißchen karikiert, aber nur ein bißchen. In diese Richtung geht doch die Angst?

Dabei hatte man früher dem Neandertaler noch nicht einmal die Sprachfähigkeit zugetraut, erst der Fund eines Zungenbeins im Neandertaler-Skelett der Kebara-Höhle in Israel hat 1983 mit dieser Herabwürdigung Schluss gemacht. Ohne dieses Zungenbein hätte er sich mit tierischen Grunzlauten verständigen müssen, so war der Stand der älteren Theorien. Da wären die Neandertaler also sprachlos grunzend durch die Eiszeit und durch Europa gelaufen, während in derselben Epoche und in denselben Höhlen das stolze Menschengeschlecht in einem großartigen Anfall von Schaffenskraft alle Arten von hochrangigen Kunstwerken an die Wand geworfen hat. Die gigantischen Erfindungen von Malerei und Bildhauerei und Instrumentalmusik waren ausschließlich Menschensache. So meinte lange die Wissenschaft des Homo sapiens sapiens.

Wie dicht waren die Neandertaler an der Kunst?

Ocker-Farbe auf Muschelschalen und Bohrlöcher in Adlerklauen, was konnten die noch alles? Stammt die Maske von La Roche-Cotard von einem einsamen Genie?

Dass die Neandertaler eine Sprache haben dürfen, sei ihnen gegönnt, aber müssen sie jetzt gleich die gesamte musikalische und künstlerische Kultur des Aurignacien zugeschrieben bekommen? Die Archäologen haben zu kämpfen um diese Kultur-Stufe für den Sapiens zu reklamieren. In den kunstträchtigen Höhlen liegen die Knochen der einen Menschenart neben denen der anderen. Bei jedem Zahn wird gefeilscht, zu wem er gehöre und um die Ungestörtheit der Schichtenfolge wird gestritten. Steinwerkzeuge von denen und Steinwerkzeuge von uns im Sand unter den wunderschönen Gemälden.

Hauptbeweis gegen die Kulturfähigkeit der Neandertaler und für die Zuschreibung der Kulturerzeugnisse an den Sapiens war bisher das Argument, dass in den Zigtausend Jahren vor der Ankunft des Sapiens keine Kunst vorläge, also kein Neandertaler auf eine derartig kreative Idee gekommen sei. Jahrtausendlang hat niemand im weiten, neandertalischen Land versucht eine Figur zu schnitzen, einen Bison an die Höhlenwand zumalen oder in einen hohlen Schwanenknochen zu pusten. Dem widersprach zuerst die "Maske von La Roche-Cotard". Das ist eine kleine Stein-Scheibe die wie ein Menschen- oder Tiergesicht aussieht. Dieses seltsame Teil wird als "Proto-Figurine" bezeichnet, ein Vorläufer der späteren Kleinkunst. Der Eindruck eines Gesichts wird dadurch erzeugt, dass ein Stück Knochen in eine löchrige Silex-Scheibe eingeklemmt und mit kleinen Steinchen festgekeilt wurde. Die beiden Knochenenden gucken symmetrisch aus dem Stein und sehen dann aus wie Augen. Welches Genie hatte diese verrückte Idee?

Solange diese Neandertaler-Kunst in einer Höhle an der Loire ein Einzelfall blieb, konnte man immer noch vermuten, dass die explosionsartige Vermehrung von Kunst im Aurignacien doch eher dem Erscheinen des Sapiens in Europa zu verdanken sei. Die Ocker-Farbe in den Muschelschalen der spanischen Cueva de los Aviones konnte zwar von Joao Zilhao in Richtung Körperbemalung des Neandertalers interpretiert werden. Aber darin schon Kunst zu sehen, will vielen Archäologen nicht so recht schmecken. Ein Paukenschlag zugunsten des Neanderthalensis wäre die 2018 erfolgte Datierung der Höhlenmalerei der Cueva de La Pasiega auf ein Alter von 64-Tausend Jahren, aber diese Datierung mit der Uran-Thorium-Methode ist umstritten. Der Hauptbeweis für die Nicht-Kunst-Fähigkeit unseres 4% Opas wackelt also, ist aber noch nicht gefallen. Wenn die Neandertaler vor dem Aurignacien kunstlos geblieben waren, dann muss die große Epoche wohl den Neueinwanderern zugeschrieben werden. Die europäische Kunst entsteht genau dann, als die Sapiens nach Europa kommen.

Unabhängig von den Datierungen in Europa könnte der Hauptbeweis auch aus anderem Grunde hinfällig werden: Nämlich durch die peinliche Gegenfrage: Wo ist die Kunst der Sapiens vor ihrer Ankunft in Europa? Auch Familie Sapiens hat vor ihrer Begegnung mit den Neandertalern keine Kunst zuwege gebracht. Sapiens existierte zigtausend Jahre lang in Afrika. Da hätten sie genug Zeit gehabt zum Malen und Schnitzen. Aber auf dem Ursprungskontinent des Homo sapiens sapiens sind alle bisher gefundenen Höhlenmalereien deutlich jünger als das Aurignacien. Warum hat der Sapiens in den früheren Jahrtausenden seiner Existenz nicht so richtig den Durchbruch zur Kunst geschafft? Wenn der einen Menschenart ein Mangel an Kreativität vorgeworfen wird, gilt das genauso für die Andere.

Es wurden wohl Malereien auf Sulawesi gefunden aus sehr früher Zeit, also gab es vielleicht eine künstlerische Revolution in Asien. Da stellt sich die Frage, ob sich dort vielleicht auch zwei Menschenarten begegnet sind? Der Denisova-Mensch besteht zwar nur aus dem DNA-Extrakt eines Fingerknöchelchens, aber es gab in Asien noch andere Typen, der Flores-Mensch vielleicht?

Auch wenn es wirklich die Sapiens waren, die in Europa die Kunst erfanden, warum findet die große künstlerische Revolution des Aurignacien ausgerechnet zu der Zeit statt, als zwei Unterarten der Gattung Homo denselben Lebensraum miteinander teilten? Könnte die Begegnung von Neandertalern und Homo sapiens sapiens der Auslöser, oder zumindest ein Auslöser für das Kunstschaffen gewesen sein?